Die Verklärung der Wildnis

Reinhard Wobst (Zwinki), zwinki2@gmx.de
@(#) Feb 02 2024, 11:04:28

Die Zusammenfassung vorweg

Natur Natur sein lassen ist das Grundprinzip, ja ein Dogma deutscher Nationalparke, wissenschaftlich Prozessschutz genannt. Immer wieder heißt es "die Natur ist schlauer als wir". Das leuchtet zunächst auch einmal ein, denn wir verstehen von den unglaublich komplexen Ökosystemen immer nur einen kleinen Teil.

Auch ich habe Jahrzehnte an dieses Prinzip geglaubt, wenngleich mir die fundamentalistischen Naturschützer zuwider waren, die den Menschen nur als Störfaktor sehen. Schaden haben wir ja genug angerichtet, aber wer die Natur nicht mehr live erleben darf, hat auch keine Motivation mehr, sie zu schützen. Zu Deutsch: Wir wollen einen erlebbaren Nationalpark, keine umzäunte Wildnis, die nur vom Geländer aus betrachtet werden darf.

Spätestens mit dem Zusammenbruch der Fichten-Monokulturen, vor allem seit 2018, kamen mir Zweifel: Wir brauchen einen "gesunden Mischwald" (der stabil und widerstandsfähig ist), aber wie soll aus diesem Fichtenmikado-Chaos von allein so etwas entstehen? Und der Klimawandel wirkt viel schneller als erwartet: Welcher "gesunde Mischwald" darf es denn sein?

Nach der Brandkatastrophe 2022 wurde mir endgültig klar: Hier läuft grundlegend etwas schief. Wenn wir alles sich selbst überlassen, wird kaum etwas "Vernünftiges" dabei herauskommen. Es kündigen sich sogar lebensbedrohliche Katastrophen an.

Und dann stieß ich auf Arbeiten, die ziemlich gut belegen: Dieses ganze "Natur Natur sein lassen" ist eine Wunschvorstellung, ein Kopfkonstrukt, und beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hätte ich nur mal in der Wikipedia bei "Prozessschutz" nachgelesen! Dort steht nämlich unter "Kritik und Konflikte":

Obwohl der Prozesschutz vorgibt, primär naturwissenschaftlich zu argumentieren, löst er sich nicht von den ganzheitlich-organizistischen Naturvorstellungen, denn es geht ihm letztlich nicht um den Schutz ökologischer Prozesse an sich, sondern um die Verwirklichung idealtypischer, wildnisgeprägter Naturbilder.
(Reinhard Piechocki, 2010, Quelle s. Wikipedia)

Das Thema wird sehr kontrovers diskutiert, die öffentliche Meinung - in der Bevölkerung, den Naturschutzverbänden und sogar in politischen Vorgaben - zielt eindeutig in Richtung "Wildnis". Was das auch immer sein mag.

Es ist dringend nötig, hier etwas Klarheit zu schaffen, auch wenn noch viele Fragen offen sind. Doch es findet sich interessante Literatur.

Der Drang nach "unberührter Natur"

Die Natur war überhaupt nicht immer "schön". Der Wald war feindlich, voller Räuber und wilder Tiere und schwer zu durchdringen. "Macht Euch die Erde untertan", hieß es schon in der Bibel.

Erst zu Zeiten der Romantik im 18. Jahrhundert wurde es in den Städten "ungemütlich", man vermisste die Geborgenheit, und begann sich nach dem "Ursprünglichen" zu sehnen. Das wirkt bis heute: Die meisten Vertreter der Bergsport- und Naturschutzverbände, die ich kenne, kommen aus Städten.

Und da unsere Zivilisation gerade dabei ist, ihre Existenzgrundlagen zu vernichten - nicht zuletzt über den Klimawandel - ist eine Flucht in "unverdorbene" Natur logisch und auch nötig: Sie ist ein wichtiges Gegengewicht zum Alltagsstress, auch für mich. Deswegen fahre ich auch lieber mit dem Rennrad durch grüne, ruhige Täler, als mich astabsägend durchs Fichtenmikado zu kämpfen.

Das alles bestätigt eine umfangreiche Studie

"Wildnis in Deutschland ..." (Quelle)

Wildnis wird vom überwiegenden Teil der Bevölkerung positiv gesehen, und nicht nur das:

Das Konzept Wildnis wird damit in der NBS über ein Papier politisch legitimiert, in dessen Sinnzusammenhang es sich letztlich nicht wissenschaftlich begründen lässt.

Das Gutachten trägt keine Fakten zusammen, die reflektiert werden, sondern versucht aufzuzeigen, wie Wildnis umgesetzt werden kann.

Hart geht der Autor auf S.102 mit der Akzeptanz der Aussagen von Peter Wohlleben (2015) zur "Vermenschlichung" des Waldes ins Gericht:

Fast 60 % der Befragten waren der Meinung, dass Bäume soziale Wesen sind, die denken, kommunizieren und auch Schmerzen empfinden ...
Die Antworten ... zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland auf Natur nicht mit einer naturwissenschaftlichen Logik blickt, sondern sich vielmehr an Ideen eines kontrovers diskutierten Konzepts ... der Romantik orientiert."

Und ganz so ist auch die vorherrschende Meinung. Das Gutachten kommt zum Schluss, dass es wenig Sinn hat, dagegen vorzugehen. Widerspruch dazu wird nur von seiten der Forstwirtschaft erwähnt. "Na klar," denkt da der Außenstehende, "die sehen ihre Felle wegschwimmen."

Allerdings sitzen dort auch Forstwissenschaftler, die ein wenig mehr von der Sache verstehen. Und weil es hier nicht um Ästhetik, sondern um Grundlegendes geht (Stichworte: Klimawandel, Waldbrand, Artensterben), sollten wir doch versuchen, uns mehr auf Fakten zu stützen. Ich versuche das im Folgenden.

Die Mär von der unberührten Wildnis

Beschränken wir uns auf den hinteren Teil des Nationalparks. Wer glaubt, dort wäre vor der Fichtenmonokultur "ursprünglicher" Wald gewesen, irrt. Für Leser mit Muse empfehle ich die überraschende Lektüre von Die ältesten Wege in der hinteren Sächsischen Schweiz (offenbar ein Scan mit einigen Fehlern) des Heimatforschers Hermann Lemme, der schreibt:

Von einem undurchdringlichen Urwald konnte seit Ende des 16. Jahrhunderts überhaupt nicht mehr die Rede sein. Raubbau und Mißwirtschaft hatten sich einander die Hand gereicht, um den ehemals dichten Waldmantel von Grund aus zu verwüsten.

Man nimmt sogar an, dass Buchenwälder schon in der Steinzeit durch den Menschen gefördert wurden, weil diese den Wald rings um ihre Siedlungen abholzten und diese später verließen. Auf den entstandenen Lichtungen konnten dann Buchen hochschießen.

Ziemlich krass (und sehr inhaltsreich!) zeigt das Werner Kunz im Artikel

Die Ausweitung von mehr Naturwald ohne forstliche Eingriffe ist kein Artenschutz:

Nach der letzten Eiszeit war Mitteleuropa fast artenleer, und es wanderten die Arten der Steppen des Ostens und der lichten Wälder des Südens ein. Kurzum: Es gab schon immer abrupte Wandel; das "Ursprüngliche" sind oft die Überreste einer Katastrophe.

Der Autor geht sogar noch weiter: Die "zerstörte Natur" der letzten Jahrhunderte hatte deutlich mehr Arten, als wir heute beobachten können. Er schließt daraus auch, dass die Bedeutung der Wälder für die Vögel im Vergleich zu anderen Habitaten (Wiesen, Heiden, Flachgewässer, Moore) relativ gering ist (S.4r).

Ist Wildnis gut für den Artenschutz? Und stabil?

Das Artensterben könnte uns die Existenz kosten. Wir können es nicht rückgängig machen. Von Naturschützern wird der Schutz bedrohter Arten oft nur ethisch und nicht sachlich begründet. Doch denken wir einmal daran, dass es ohne Insekten sehr viele Lebensmittel nicht mehr geben wird - in China wird bereits Handbestäubung von Obstblüten durchgeführt. Bei diesem Thema wünsche ich mir mehr Sachlichkeit in den Appellen.

Wer aber weiß, wie bedrohlich das ist, für den erscheinen Erhalt oder Schaffung von Wildnissen geboten und einleuchtend. Doch ist das wirklich so?

Und übrigens gibt es da noch die Neophyten, deren Bekämpfung im strengen Prozessschutz-Regime eigentlich nicht erlaubt ist - das ganze Konzept ist widersprüchlich.

Die hoch geschätzten Buchenwälder sind sogar besonders artenarm. Darauf weist selbst das Sondergutachten aus der o.g. Studie zur Wildnis in Deutschland hin (S.13, 1.). Noch schärfer kritisiert Werner Kunz in seinem Artikel

"In Mitteleuropa ist Artenschutz oft nicht Naturschutz"

die herrschende Ideologie:

"... was der etablierte Naturschutz sowohl in den Ämtern (Ministerien) als auch in den Vereinen nicht begreift und nicht begreifen will, weil er der Ideologie der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verhaftet ist ... Die wollen nicht begreifen, dass Artenschutz in Mitteleuropa nicht durch bloßen Naturschutz erreichbar ist.

Und er zeigt Beispiele, wie sogar in Tagebaulandschaften "Bienenfresser, Heidelerche, Rotrückenwürger und Steinschmätzer (fast die letzten Brutvögel in ganz Nordrhein-Westfalen) gebrütet" haben.

Wir sind hier offensichtlich auf einem Gebiet gelandet, auf dem noch geforscht wird. Aber wir belassen es einmal bei: Nein, Wildnis/Prozessschutz heißt nicht automatisch Artenreichtum oder Artenerhalt.

Wohin entwickelt sich Wildnis?

Nicht nur die Arten sollen erhalten bleiben, sondern "die Natur" überhaupt. Dass das kein Automatismus ist, zeigten Fichtenmikado und Waldbrände eindrücklich. Doch kann sich die Natur überhaupt selbst "heilen"?

Diese Frage ist falsch gestellt. Die Natur korrigiert nicht, denn sie kennt kein Richtig und Falsch. Sie entwickelt sich einfach entsprechend ihrer Randbedingungen (und mit deren Veränderung - Klimawandel!).

Beispiele:

In all den Arbeiten, die ich bisher las, spielte die Brandgefahr noch keine Rolle. Ich habe sie dafür umso öfter erwähnt und gehe vor allem in meinen News darauf ein. Wenn die Eindrücke der Feuerökologen stimmen, dann müssen wir auch hier mit Brandkatastrophen eines neuen Ausmaßes rechnen, ähnlich wie im Mittelmeergebiet.

Zusammen mit den Unwägbarkeiten, die Klimawandel sowie die sprunghaft gestiegene Brandlast bedingen (so etwas wie das derzeitige Fichtenmikado hat es zumindest seit der letzten Eiszeit noch nicht gegeben), steht die Forstwissenschaft wohl vor noch nie dagewesenen Problemen.

Aber eines dürfte sicher sein: Die Natur sich selbst überlassen dürfte uns schlecht bekommen.

Was tun?

Nach all dem "Wildnis-Bashing" will ich versuchen, wenigstens ein paar Ziele und Wege zu formulieren, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Es gibt noch "Handlungsempfehlungen", die leider nicht zeitnah umgesetzt werden könnten:

Danksagung

Für zahlreiche Hinweise und Diskussion während der letzten Jahre möchte ich hiermit Dr.Rainer Petzold vom Sächsischen Bergsteigerbund danken.

Updates vom 24.1.24 und 2.2.24

In der Doku "Englands Wald der Könige", bis zum 23.4.24 noch in der Mediathek abrufbar, wird die Offenland-These aus der Wikipedia sogar noch verstärkt: Der 400km² große New Forest Nationalpark ist der artenreichste in Großbritannien und hat einen "Wald, so wie er früher in Mitteleuropa überall war,", erklärt die Sprecherin. Dort sorgen vor allem freilebende Ponys für einen lichten Wald. Weil Wolf und Luchs fehlen, werden Hengste entnommen (verkauft, nicht erlegt), damit die Herden nicht zu groß werden. Während der Eichelmast werden sogar Schweine in den Park getrieben, und auch Kühe sind dort regelmäßig zur Waldweide. "Nur dadurch kann sich der Artenreichtum erhalten."

2.2.24
Noch besser (und ohne langes Video) wird das in dem Artikel "Die Klima Kuh Teil 2" erläutert - den sollte man sich wirklich einmal zu Gemüte führen, wenn Zeit dafür ist. Er räumt vor allem mit der gängigen Lehrmeinung auf, dass der dichte Wald der "gesunde" Endzustand ist, der sich von allein einstellt - Hauptsache, man lässt die Hände in den Hosentaschen. Nur ein Zitat daraus:

Megaherbivoren-Hypothese heißt die Theorie, nach der die ersten Bäuerinnen und Bauern eben keinen geschlossenen Hochwald in Mitteleuropa vorfanden. Die Megaherbivoren, die großen Pflanzenfresser, hatten schon für Graslandschaften gesorgt. Die Verfechter der Klimaxtheorie, nach der die Sukzession der Pflanzengemeinschaften im Hochwald endet, führen dagegen an: In den Pollenanalysen aus der Jungsteinzeit, die die Paläobotaniker zum Beispiel aus tiefen Torflagen in Mooren holen, fänden sich nur Baumpollen und fast keine Pflanzen des Offenlandes.

Es finden sich in den Pollenanalysen aber regelmäßig die Spuren von Eichen. Dazu hat die Klimaxtheorie dann Mischwälder aus Eichen und Linden, oder Eichen und Buchen erfunden. Solche Wälder gibt es aber nicht. Diese Bäume können nebeneinander nur in offenen Landschaften existieren. Also muss es auch in der Jungsteinzeit vor zwölftausend Jahren in Mitteleuropa solche offenen Landschaften gegeben haben – Weidelandschaften eben, hergestellt von den großen Pflanzenfressern.

Das alles ist das blanke Gegenteil von Prozessschutz, mit erstaunlicher Wirkung!

Unser Prozessschutz hier wird wohl den Brennstoff für ein Megafeuer liefern: https://sciodoo.de/was-ist-ein-megafeuer-bzw-megabrand-und-wie-entsteht-es/ Das fürchte ich. Megafeuer sind solche, die nicht mehr mit bekannten Mitteln gelöscht werden können. Ich vermute, wie hatten im tschechischen Nationalpark bereits ein solches.